„Tilting Moments“: Zoom auf das Wesentliche (Blog)

– Interview mit Cornelia Böhnisch und Katharina Schrott zum Produktionsprozess von „Tilting Moments“.

Wo fängt „Tilting Moments“ an, wo hört „Im Flatterland“ auf?
Thematischer Einstieg ist unser aktuelles Spielzeitthema „Häutungen“. Häutungen betrachten wir dabei als einen Prozess, der etwas Neues hervorbringt. Häutungen bedürfen Zeit, sie haben verschiedene „Schübe“ und entfalten sich womöglich wellenartig. Schüben und Wellen stehen aber auch immer Ruhe und Unruhe gegenüber. Die Wahl des Textilen entstand aus diesen Überlegungen. Damit haben wir ein für uns passendes Material gefunden. Textiles bekommt die Bedeutung einer Hülle. Dazu Atmen, Luft und Wind als Impulse für eine kontinuierliche Veränderung, als Impulse für Ruhe und Unruhe. Die Wellenform, jenes An- und Abschwellen ist zu einem wichtigen Prinzip in der Choreografie geworden. Aus diesem intensiven Research-Prozess heraus sind dann „Im Flatterland“ und „Tilting Moments“ zwei ähnliche und doch ganz unterschiedliche Formate entstanden.

Wie verbindet sich „Tilting Moments“ mit „Im Flatterland“?
Sowohl „Im Flatterland“ als auch „Tilting Moments“ sind als „Atemskulpturen“ zu verstehen. Gebilde, die nicht greifbar sind und wo das Unmögliche mit dem Möglichen verschmilzt. Sichtbar werden diese Atemskulpturen durch textile Materialien, die Raumluft strukturieren, bewegen und eine Verlängerung des Atems der Performerinnen darstellen. Zeigt „Im Flatterland“ noch eine große Vielfalt an textilen Strukturen, Bewegungen und auch Skulpturen, gelingt es in „Tilting Moments“ eine Art „Zoom“ auf Inhalt und Material zu lenken. Das stetig fließende Hin und Her eines einzigen hauchzarten Tuchs, im Zusammenspiel mit Atem und dem Klang der Schritte der Tänzerinnen, erzeugt vielschichtige Bilder und entfacht eine unglaubliche Sogwirkung auf die Zuseher*innen. Ist das Tuch eine Hülle? Eine Friedensfahne? Eine, einen Embryo umgebende Fruchtblase? Ein Totentuch? Viele Assoziationen erwachsen in der Betrachtung von „Tilting Moments“. Ein Tuch, bewegt von drei Tänzerinnen, das sich zu imposanten Gebilden aufbauscht. Wir schauen genauer hin, fokussieren auf das Spiel mit den Zeiten und das Spiel mit den Parametern: Mit Bewegung und Pause und der jeweiligen Rückwirkung einer Bewegung.

Was steht für Euch bei der Arbeit mit Textilien im Vordergrund?
Die besondere Haptik des Stoffes war der Ausgangspunkt unserer Research-Arbeit. Wie mit einer Lupe richten wir den Blick drauf: Was steckt alles drin? Zum einen hat uns das ganz „einfache“ und elementare Spiel von Kindern mit einem Schwungtuch fasziniert. Ein Schwungtuch erzeugt eine unglaubliche Freude und Aufregung im Spiel. Die ständige Veränderung im Tuch, das Spiel mit der Oberfläche und das Oben und Darunter regt etwas sehr tief Empfundenes an. Freude, Aufregung, Kreischen, Lachen, und auch ein gewisser Genuss an Angst oder Furcht. Zuerst war da der Gedanke ein Stück für Kinder zu entwickeln, ein Tuch und das Thema Wellen. Dann kam das Thema Häutungen dazu und die Bereiche Inhalt und Material fügten sich zusammen. Wir haben uns dem Textilen auch unter dem Aspekt der Umhüllung zugewandt. Zudem haben Textilien, je nach Stoffhaptik, auch etwas Flüssiges und Fließendes. Diese Eigenschaften haben uns dann bei „Tilting Moments“ besonders zu interessieren begonnen. Der Fokus auf diesen Moment des Fließens und jener Moment, wo eine Bewegung in die andere übergeht, jener „Kippmoment“ steht sogar mittlerweile so stark im Vordergrund, dass der metathematische Fokus „Häutung“ gar nicht mehr so wichtig ist. Wir zoomen quasi rein, wir nehmen jenen Moment des Umbruchs, jenen Kippmoment unter die Lupe. Mit „Tilting Moments“ kommen wir sozusagen in der Schlussphase der „Häutungen“ an. Für uns gehen die Gedanken weiter: Was zeigen wir dem Publikum, wie nehmen wir es mit? Am Ende schließt sich der Kreis, und wir sind am Anfang einer Idee. Wir lernen von den Kindern: Erwachsene betrachten ein riesiges Schwungtuch und  der Kippmoment, der „Tilting Moment“ wird spürbar. Jene Basis des Erlebens und die individuelle Wahrnehmung stehen nun im Vordergrund. Ebenso wie die Vielfalt möglicher Assoziationen und Interpretationen.

„Tilting Moments“ berührt damit grundlegende Aspekte der Wahrnehmung und Rezeption…
Das ist richtig. Wir würden sogar soweit gehen und sagen, dass dieser Moment des „Kippens“, dieser Scheitelpunkt einer Bewegung, die fließend in eine neue übergeht, auch sehr zeittypisch ist und universell zu sehen ist: In den vergangenen drei Jahren haben wir uns alle verändert. Haben eine intensive Erfahrung mit Zeitlichkeit gemacht. Wir haben erfahren, wie sich das jähe Stoppen des Alltags anfühlt. Dieses Gefühl, diese Erfahrungen sollten wir festhalten und uns immer wieder vergegenwärtigen, ehe uns die alltägliche Betriebsamkeit wieder voll im Griff hat. Wir sollten auch universeller denken, dies – in unserem Falle – auf den gesamten Theaterbetrieb, auf das Theater im Allgemeinen umlegen: Sind wir nicht auch hier in einem massiven Transformationsprozess?
Was ist im Theater, genauer gesagt in der Rezeption, der kleinste gemeinsame Nenner? Ist das nicht dieser Moment des Wahrnehmens? Jener Moment, in dem etwas berührt und angestoßen wird? Die Katharsis? Damit gehen wir zu den Ursprüngen des Performativen zurück. Katharsis als Inbegriff einer Transformation. Doch wie kann Katharsis funktionieren? Wie kann sich der Moment oder die Momente der Katharsis anfühlen? Man kann nicht unberührt raus gehen, der Moment wird nicht nichts bewirken. Wir gehen bei „Tilting Moments“ sogar noch einen Schritt weiter und schließen jene Augenblicke danach mit ein, in denen man sich der Betrachtung und dem Genuss des Moments dann ganz hingeben kann und in den Flow eintaucht, einfach, weil der Moment „nichts mehr von einem will“. Zeit und Zeitlichkeit bekommen da eine wichtige Bedeutung: Denn eine Welle muss eine bestimmte Dauer haben, um auf Zuschauer*innen einen Effekt zu haben. All diese Turning Points, diese fein nuancierten Kipppunkte interessieren uns bei „Tilting Moments“. So gesehen ist „Tilting Moments“ ein Destillat großer Themen.

Damit wird „Tilting Moments“ zu einer intensiven Lupe des Moments und der Bewegung…
In unserer Theaterarbeit versuchen wir, den Blick auf das Wesentliche zu richten. Auf das Wesen einer Bewegung, eines Inhalts, einer Choreographie oder auf ein Material. Es wird etwas belebt, in diesem Fall ein großes Tuch, durch individuelles Zutun. Drei Menschen hauchen diesem Tuch durch ihre Bewegungen Leben ein. Die Figuren werden nie zu Hundertprozent gleich sein, eine Choreografie der Veränderung entsteht. Auf die man sich einlassen darf. „Tilting Moments“ spielt mit dieser Bewegung und mit diesem Emotionsspektrum. Kleine Wellen, die in ihrer „Bewegungsumkehr“ eine größere Welle entstehen lassen und somit eine größere Auswirkung haben. In diesen Momenten des Kippens wird das Material dann tatsächlich nebensächlich. Wir häuten uns damit sozusagen auch von unserem Spielzeitthema. Wir lassen los, indem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Und ist es nicht so? Wenn ich nichts tun will, muss ich mit etwas aufhören..

„Tilting Moments“ hat am 30. September 2022 Premiere.

Die Produktion „Im Flatterland“ hatte im März 2022 zur Eröffnung der Spielzeit „Häutung“ Premiere und ist ein Stück für Erwachsene und Kinder ab 3 Jahren.

 

Fotos (c) Fabian Schober: