Im Gespräch mit Architektin Anna Heringer

Was ist Ihnen bei Ihrer Arbeit wichtig? Was fasziniert Sie?

Partizipation ist mir bei meiner Arbeit sehr wichtig. Ich arbeite mit Lehm, das ist mein wichtigstes Baumaterial. Lehm ist auch ein unglaublich inklusives Material, weil man ihn mit den Händen verarbeiten kann. Dazu dieses Gefühl, wenn man etwa als Gesellschaft und Gemeinschaft zusammenkommt und etwas aufbaut. Ob das nun eine Schule ist, oder, wenn man in die Geschichte blickt, eine Kapelle, eine Kirche oder ein Rathaus. Das Gefühl des Zusammenkommens, um gemeinsam etwas zu schaffen. Dieses Gefühl, wenn man dann vor dem fertigen Gebäude steht und sagen kann: „Das haben wir gemeinsam gemacht!“ Natürlich müssen alle an einem Strang ziehen, da man diesen Kraftakt sonst nicht schafft.

Sehen Sie da Querverbindungen zu Kunst und Kultur?

Ich glaube, so ein Erlebnis zu schaffen, das ist auch die Aufgabe von Kultur. Als ich Kind war, gab es bei uns in Laufen ein Mysterienspiel, „Der Schiffmann von Laufen“, wo die ganze Stadt mitgemacht hat: Die Kleinen haben im Kinderchor gesungen, die Mütter haben die Kostüme genäht. Dann waren auch noch andere Chöre dabei, es gab Leute, die das Bühnenbild gemacht haben … etc. Für mich war das extrem prägend und die Melodien habe ich heute noch im Kopf. Man erkennt auch noch die Leute auf der Straße als Mitwirkende aus dem Stück: „Der hat damals den Teufel gespielt!“, „Sie war doch die Maria!“. Durch diese Zusammenarbeit sind Beziehungen entstanden, die auch nach so vielen Jahren noch aufrecht sind. Genau das finde ich wichtig, in der Kultur wie auch in der Architektur. Alle sollen mitmachen dürfen. Doch dafür muss man sich auch ein Stück weit von der Perfektion lösen. Dabei ist diese in unserer Welt so omnipräsent: Man schaue sich etwa die ganzen TV-Casting-Shows an: Die Leute dort sind richtig gut, alles wird perfekt präsentiert. Doch das macht´s in Wahrheit nicht gut, denn es entsteht der Eindruck, dass wenn man z.B. singen möchte, es schon perfekt sein muß. Dabei sollte etwas anderes im Vordergrund stehen: Das Erlebnis. Wenn man sich zusammentut, als Stadt oder Gemeinschaft können wirklich tolle Dinge entstehen. Etwas Bleibendes. Das sollte wieder mehr in den Fokus rücken und in der Kultur verankert sein, dass wir weggehen von der Perfektion und Exklusivität und das Gemeinschaftliche und auch die Imperfektion umarmen und dadurch etwas Besonderes entstehen lassen. Beziehungen entstehen lassen. Denn daran mangelt es uns doch in Wahrheit am meisten. Uns mangelt´s nicht an Materie oder Information, wir könnten uns etwa immer irgendwo die tollsten Konzerte runterladen. Was man aber nicht runterladen oder streamen kann, sind zwischenmenschliche Beziehungen.

Das sehen auch wir auch so. Wir haben uns etwa in der Zeit des kulturellen Lockdowns ganz bewusst gegen das Streamen von Produktionen entschieden, da wir auch der Meinung sind, dass Theater nur im Hier und Jetzt, im Moment passieren kann …

Genau, man muss eine gewisse Offenheit für Dinge haben, die sich ergeben. Wenn man etwa auf einer Baustelle mit ungelernten Arbeitskräften zusammenarbeitet, dann muss man gewisse Ansprüche loslassen. Aber was dabei entsteht, ist so viel mehr. Ich glaube wir haben das gemeinsame Tun verlernt, weil wir so vieles an Experten abgeben. Das Bauen delegieren wir an Experten, die Kunst hängt man sich an die Wand … aber eben dieses gemeinsame Schaffen, das ist wahnsinnig prägend und wertvoll. Die Kathedrale in Worms hatte zum tausendjährigen Jubiläum einen Altar bekommen. Gemeinsam mit meinem Kollegen Martin Rauch habe ich am Ausschreibungswettbewerb mitgemacht und man hat gemerkt, wie zwei Paradigmen zusammengekommen sind: In der Auswahlrunde war auch ein Bildhauer, der ein unheimlich schönes Objekt entworfen hat. Unser Ansatz war, dass wir das Material und Werkzeug bringen und die Gemeinde dann diesen Altar gemeinsam stampft. Letztendlich haben wir das Rennen gemacht und die Arbeit an diesem Projekt war ein enorm schönes Erlebnis: Da haben Ministranten, Dominikanermönche, der Kirchenbeirat und einfach Leute mitgemacht, die davon im Radio gehört haben und mit der Kirche eigentlich überhaupt nichts zu tun haben… Da waren zum Beispiel Bodenwissenschaftler oder Landwirtschaftsleute, die gesagt haben: „Schön, dass Erde einmal im Fokus steht und einen so wichtigen Raum einnimmt.“ Wir haben Lehm aus ganz unterschiedlichen Teilen der Welt eingestampft und man hat gemerkt: Das verbindet uns alle weltweit. Diese Erfahrung war so viel wertvoller, als wenn wir ein perfektes, vorfabriziertes Objekt in die Kirche gestellt hätten.

Finden Sie, dass Resultate insgesamt interessanter werden, wenn man sich vom Perfektionsanspruch löst?

Rein optisch würde ich sagen, dass beide Ansätze gleich gute Ergebnisse liefern können. Löst man sich vom Perfektionsanspruch, dann ist das Ergebnis auf jeden Fall authentischer. Das strahlt es auch aus und das macht es besonders. Gerade in der Architektur wird alles immer kontextloser. Nehmen wir etwa Salzburg als Beispiel: Die Läden von internationalen Luxusmarken in der Getreidegasse: Die gleichen Läden und Marken findest du auch in Paris, New York, Dubai… Authentische Dinge, das sind doch die Dinge, die vor Ort, mit den Menschen und den Materialien vor Ort entstehen, und mit dem Kontext natürlich, den die Menschen mitbringen. Das macht Authentizität aus. Letztendlich glaube ich auch, dass so etwas länger hält, eben weil es nicht so auswechselbar ist.

Regionales Arbeiten mit lokalen Materialien ist ja auch ein wichtiges Grundprinzip Ihrer Arbeit ..

Genau, ich schaue immer auf die lokalen Materialien, die da sind und auf die lokalen Energieformen. Die wichtigste Energieform ist da für mich der Mensch. Bei alternativen Energiequellen denkt man immer zunächst an Sonne oder Wind etc., aber der Mensch ist auch eine Energiequelle. Und diese Energiequelle wächst und muss genutzt werden. Auch, weil wir alle das wollen: Gebraucht werden. Das ist einfach ein Urbedürfnis des Menschen, dass man gebraucht wird und sich irgendwo einbringen kann. Zu den lokalen Materialien und lokalen Energiequellen kommt dann die globale Kreativität. Ich finde, dass Wissen und Know-how nicht beschränkt sein dürfen. Überall sollte man anzapfen. Und dann halt auf die lokalen Ressourcen projizieren oder adaptieren: Wie kann man aus dem Dreigespann aus Materie, Energie und Information, wie kann man da etwas Authentisches machen, das wirklich zum Kontext passt. Und das müssen wir einfach wieder lernen: Aus lokalen Potentialen das Beste rauszuholen.

Für Ihre Architektur mit Lehm werden Sie oft als Pionierin bezeichnet. Könnte man sagen, dass Sie damit sozusagen auch an der Zukunft bauen?

Lehmbauten haben eine ewig lange Geschichte auf der Welt, in Europa, selbst in Österreich. Auch im Burgenland gibt’s etwa sehr viele Lehmbauten. Als „Pionierin“ würde ich mich hier jetzt eher nicht so sehr bezeichnen, denn der Lehmbau ist in unserer Kultur verankert. Wir haben diese Bautechnik nur seit der Industrialisierung „vergessen“. Was ich versuche, ist diese alten Materialien quasi in neuen Formen umzusetzen. Zu beweisen, dass es egal ist wie alt ein Material ist und dass man damit natürlich, zeitgemäß und sehr gesund bauen kann. Und ja, Lehm ist ein zukunftsfähiges Material, weil es von Natur aus gegeben ist. Es ist vorhanden. Es entsteht ohne CO2, denn im Prinzip ist Lehm erodiertes Gestein. Und da haben wir in unserer Gegend viel. Es ist ja verrückt, überall müssen wir mehr in die Tiefe gehen, weil der Landpreis und der Bodenpreis immer höher werden, das heißt, man muss mit der ganzen Infrastruktur, mit Tiefgaragen, U-Bahnen und so weiter in die Tiefe geben… und eigentlich ist der Aushub, der dafür gemacht werden muß, Baumaterial. Eigentlich bräuchte jede größere Stadt eine kleine Lehmfabrik, wo dieses Ausgangsmaterial rein- und sozusagen als Baublöcke wieder rauskommt. Das würde ich mir wünschen. Letztendlich ist ja etwa der Mönchsberg auch nichts anderes, oder? Dort hat man das Gestein rausgegeben und verbaut. Und klar stellt sich die Frage: Was tust Du dann damit? Genau dieses Prinzip braucht´s jetzt wieder. Der Lehm ist ein Material, das genau das hat, was wir brauchen. Damit kann man auf die Klimakrise reagieren, weil für seine Produktion kein CO2 benötigt wird. Je nach Kontext kannst du Lehm mit mehr Einsatz-oder Maschinenkraft verarbeiten. Auch weil die Bearbeitung von Lehm entsprechende Arbeitskraft benötigt, ist dieser ein sehr soziales Material. Lehm schafft zudem keinen Unterschied zwischen Arm und Reich, das finde ich auch wahnsinnig wichtig. Ich kann damit in Bangladesch genauso bauen, wie in Europa und das ist ein essentieller Ansatz in meiner Architektur: Dass Architektur nicht exklusiv ist. Außerdem ist es enorm nachhaltig, wenn man mit natürlichen Materialien baut und und dabei lokale Arbeitskräfte einbezieht. So ist auch unsere Baukultur entstanden.

Wer sind Ihre Auftraggeber? Woher bekommen Sie Ihre Aufträge?

Das ist ganz unterschiedlich: Manchmal initiieren wir Projekte selber: Etwa wenn wir wissen, dass wo ein bestimmter Bedarf ist, dann machen wir ein Crowdfunding. In Ghana realisieren wir aktuell etwa ein Bauprojekt für Don Bosco. Weiters haben wir öfters auch Kollaborationen mit Kolleg*innen aus anderen Architekturbüros, die sagen „Wir finden das toll, und finanzieren mit“. Und dann gibt’s engagierte Einzelpersonen, die gut finden, was wir machen und uns beauftragen. Wir haben zum Beispiel ein Ayurveda -Zentrum in Rosenheim gebaut. In Traunstein, in Bayern, hat uns die Diözese Freising beauftragt und gesagt: „Ja, wir haben eine ethische Verantwortung für die Zukunft und wir machen das jetzt, auch wenn es im Moment teurer ist, nachhaltig zu bauen.“ Und ich finde, genau das ist der Punkt: Es bräuchte weit mehr Engagement aus der Politik, gerade, wenn es um öffentlichen Bauten geht. Nach dem Motto: „Okay, wir übernehmen die Verantwortung… und ja, CO2 ist im Moment noch nicht besteuert, wie es besteuert sein sollte, leider ist Beton noch billiger als Lehm (was nicht sein sollte) und trotzdem entscheiden wir uns schon heute für eine nachhaltigere Bauweise.“ Ich finde, in dieser Übergangsphase braucht’s ganz dringend Bauherr*innen, die sagen: „Ja, wir gehen vor und zeigen, dass es auch so geht. Wir stellen Geld dafür bereit, weil’s natürlich auch ein Katalysator für lokale Entwicklungen ist, etwa weil viel regionales Handwerk benötigt wird.“

Sie sprechen die Rolle der Politik an, da stellt sich natürlich die Frage: Was kann die Kunst, oder die Rolle der Künstler oder Künstlerin darin sein? Kann die da unterstützend wirken oder würden Sie sagen, dass Kunst und Kultur nicht institutionalisiert werden dürfen?

Kunst und Kultur brauchen auf jeden Fall auch Unterstützung von öffentlicher Hand und das muss natürlich die Politik verstehen, dass Kultur Gemeinschaft schaffen kann… Dass es Inspiration braucht und etwas ist, das uns aus der Lethargie aufrüttelt, gerade im Moment. Aktuell ist in der Gesellschaft eine gewisse Müdigkeit wahrnehmbar. Meine Tochter und mein Mann haben sich bei der Philharmonie in Salzburg angemeldet, um bei einem Beethoven Projekt mitzusingen. Für meine Tochter war das ein enormer Energieschub: „Endlich habe ich wieder etwas, wo ich mitmachen kann!“ Und genau so etwas braucht´s, sich zusammenrappeln, um dann die „Ode an die Freude“ rauszuschmettern (lacht).

Da schließen wir noch mit einer ganz großen Frage an: Dadurch, dass wir Kunst für die Jüngsten machen, kommen oft so Schlagsätze wie „die Welt retten“ oder so ähnlich. Ist das in Ihrer Sprache eine Floskel, ein Bild, mit dem Sie arbeiten?

Meine Floskel wäre eher: Die Welt schöner und gerechter zu gestalten. Aber ja, natürlich müssen wir uns da aus der Misere rausziehen, in die wir uns selbst hineinmanövriert haben: Wir müssen uns anstrengen. Und dazu braucht’s eben auch Ziele, die Freude machen. Da reicht’s nicht, die Welt funktional zu machen, man muss sie auch schön gestalten. Das kann man natürlich auch musikalisch… Theater ist ja im Prinzip auch eine gestaltende Realität: Da kann man auch gestalten. Und das braucht’s. Wir müssen uns nicht nur an der Realität orientieren. Weil die Realität nicht gut genug ist, wir können es besser machen, als Menschheit. Dazu braucht’s eine gestaltende Vision. Diese kann uns natürlich die Kunst vorgeben. Wenn man an dieser Vision partizipativ mitmachen kann, hat’s natürlich noch mehr Wert, weil ich dann nicht nur Konsumentin und Zuschauerin, sondern mit dabei bin. Ich glaube, das hat nochmal eine tiefere Wirkung.

In unserem Repertoire haben wir aktuell ein Produktions-Triptychon, das den Werkstoff Ton und das Tun damit ganz in den Fokus rückt. Es ist faszinierend zu sehen, wie das Publikum reagiert und mitgeht, wenn etwas so Grundlegendes wie das Kneten und Formen von Material ins Spiel kommen…

Das finde ich toll. Mit Studierenden aus Hongkong, die zuvor noch nie Ton in der Hand hatten, haben mein Kollege Martin Rauch und ich ein sogenanntes „Claystorming“ gemacht. Dabei werden Tonmodelle in größerem Maßstab zu entworfen. Es soll ganz schnell gehen, ganz intuitiv, ohne zu bewerten oder zu analysieren. Die Studierenden haben dabei eine unglaubliche Freude gehabt. Die Architekturausbildung ist sehr kopflastig. Es wird viel diskutiert und dann macht man Raster und Parameter und weiß der Kuckuck was und versucht, daraus eine Architektur zu machen. Entwerfen ist ja eigentlich nichts anderes als Entscheidungen treffen. Die besten Entscheidungen sind immer aus dem Bauch heraus. Wir versuchen uns freizumachen und dann aus dem Bauch heraus die Impulse in die Hände fließen zu lassen, in dieses Tonmodell rein. Man kann’s alleine machen oder in der Gruppe. Nicht über die Sprache, die sehr über den Intellekt geht … sondern wirklich über die Hände, über den Ton, einfach gestalten. Und das funktioniert auch mit Laien. Wir machen das manchmal auch mit Bauherren zusammen und natürlich mit Studierenden.

Es ist ganz wichtig, positive Erfahrungen mit dem Material zu machen, weil das Verbindungen sind, die merkt man sich. Und es ist wichtig, dass zum Beispiel auch Kinder Materialien spüren. Ich mache das auch gerne, wenn ich mit Ton arbeite. Es geht da nicht um das Ergebnis, das dann tausende Jahre hält, sondern um den Prozess… Genau das ist der Gedanke. Lehm kann einfach wieder in die Erde zurück… Wir wissen ja nicht, was die Leute in Zukunft für Häuser brauchen. Man kann das recyceln, oder einen Garten drauf pflanzen…

Welche persönliche Bedeutung hat Lehm für Sie? Wie sind Sie darauf gekommen?

Lehm ist für mich Erde und das brauche ich. Mich hat Leidenschaft zu diesem Material gebracht: Nach der Schule war ich ein Jahr in Bangladesch und da habe ich mich sehr intensiv mit Entwicklungszusammenarbeit und dem Anspruch, ein aktiver Teil der Gesellschaft zu sein, auseinandergesetzt. Dieses ökologische Anliegen war ganz stark da, zum anderen habe ich immer auch den Drang gehabt, etwas zu gestalten. Das war schon Richtung Architektur, aber das Künstlerische hat mich einfach schon immer interessiert… Ich habe einfach gewusst, dass man da viel mit Material umgehen muß, ein großes Momentum an Verantwortung hat und natürlich viel machen kann. Das hat mich schon fasziniert. In der Entwicklungszusammenarbeit waren Bauten damals sehr eng mit dem Ingenieurswesen verknüpft, sehr funktional, aber nie gestalterisch gedacht. Das hat mich total irritiert. Da hab ich gedacht: Ich weiß nicht, ob ich da einen Platz finde, denn ich hab das immer aus der Gestaltungsperspektive gesehen. Ich habe an der Kunstuni in Linz Architektur studiert und bin kurz vor dem Diplom in eine Krise gestürzt, da ich mir nicht vorstellen konnte, in einem Architekturbüro zu sitzen. Da habe ich das Glück gehabt, dass in Vorarlberg ein Lehmworkshop von Martin Rauch angeboten wurde. Zum ersten Mal habe ich dort mit diesem Material gearbeitet und meine erste Lehmwand gestampft. Ich habe gewusst, das war mein „Missing Link“. Weil ich mit dem Material das Thema soziale Gerechtigkeit angehen kann, weil ich absolut ökologisch arbeiten kann und weil ich absolut inspiriert war, da es ein wunderschönes Material ist. Ich habe mich dann entschieden, für meine Diplomarbeit einen Schulbau aus Lehm zu realisieren und damit bereits viele Preise gekriegt. Das war mein Weg, auf diesem konnte ich weitergehen.

Das Gestalterische also ganz stark im Zentrum…

Ja, denn Entwicklungsarbeit / Entwicklungszusammenarbeit ist immer sehr funktional gesehen worden. Dass Schönheit etwas unheimlich Wichtiges ist, das war damals einfach noch nicht so Thema. Schönheit ist für mich nichts anderes als ein formaler Ausdruck von Liebe. Und wenn man etwas aus Liebe macht, den Menschen gegenüber, der Natur und der Mitwelt gegenüber, dann ist es automatisch etwas Nachhaltiges und das ist für mich ein Synonym, denn Nachhaltigkeit ist Schönheit.

Wenn Sie an die Zukunft denken, was haben Sie da für Wünsche und Pläne?

Ich würde wahnsinnig gerne in einem historischen Kontext arbeiten. Auch in Salzburg. Das wäre ein absolutes Lieblingsding. Weil eben der Lehm ein so archaisches Material ist, das eben so verbindend ist, da könnte man wunderbar Baulücken schließen. Wie gehen wir mit dem historischen Kontext um? Man muss sich entweder stark abgrenzen z.B. mit Beton, Stahl, Glas, diversen Spiegelfassaden oder man biedert sich an und versucht das Historische irgendwie nachzumachen. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass man mit Lehm als Urmaterial eine emotionale Verbindung zwischen der Archaik, Vergangenheit / Geschichte und Gegenwart schaffen könnte. Und das trotzdem mit der modernen Form … Ich glaube, das schließt sich nicht aus. Das ist, als würde Natur hervorkommen, einfach so, in der Innenstadt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führten: Cornelia Böhnisch und Karoline Jirikowski
Organisation & redaktionelle Bearbeitung: Karoline Jirikowski
Transkript: Tania Valero-Schönhöft
Korrektorat: Johanna Breuer

Mai 2021

 

Bildcredit: Archim Graf

 

Anna Heringer, geboren im Oktober 1977, wuchs in Laufen auf, einer kleinen Stadt an der österreichisch-bayerischen Grenze in der Nähe von Salzburg. Im Alter von 19 Jahren lebte sie für fast ein Jahr in Bangladesch, wo sie die Chance hatte, von der NGO Dipshikha etwas über nachhaltige Entwicklungsarbeit zu lernen. Die wichtigste Lektion war die Erfahrung, dass die erfolgreichste Entwicklungsstrategie darin besteht, auf vorhandene, leicht verfügbare Ressourcen zu vertrauen und das Beste daraus zu machen, anstatt sich von externen Systemen abhängig zu machen. Acht Jahre später, im Jahr 2005, versuchte sie, diese Philosophie auf den Bereich der Architektur zu übertragen. Für Anna Heringer ist Architektur ein Werkzeug, um Leben zu verbessern. Als Architektin und Honorarprofessorin des UNESCO-Lehrstuhls für Lehmbau, Baukulturen und nachhaltige Entwicklung beschäftigt sie sich mit der Verwendung natürlicher Baumaterialien. Seit 1997 ist sie aktiv in der Entwicklungszusammenarbeit in Bangladesch tätig. Ihre Diplomarbeit, die METI School in Rudrapur wurde 2005 in Zusammenarbeit mit Eike Roswag realisiert und gewann 2007 den Aga Khan Award für Architektur. Im Laufe der Jahre hat Anna weitere Projekte in Asien, Afrika und Europa realisiert. Zusammen mit Martin Rauch hat sie die Methode des Clay Storming entwickelt, die sie an verschiedenen Universitäten lehrt, darunter ETH Zürich, UP Madrid, TU München und GSD/Harvard. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen: den Obel Award 2020, den Global Award for Sustainable Architecture, die AR Emerging Architecture Awards in 2006 und 2008, das Loeb Fellowship an der GSD in Harvard und ein RIBA International Fellowship. Ihre Arbeiten wurden vielfach veröffentlicht und unter anderem im MoMA New York, im V&A Museum in London und auf der Biennale in Venedig ausgestellt. 2013 initiierte sie zusammen mit Andres Lepik und Hubert Klumpner das Laufenmanifesto, bei dem Praktiker und Akademiker aus der ganzen Welt dazu beitrugen, Richtlinien für eine humane Designkultur zu definieren. Im Jahr 2017 wurde sie eingeladen, einen TED-Talk zu halten.

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