Im Gespräch mit Immunologen Arnulf Hartl

Gibt es aus Ihrer Sicht Anknüpfungspunkte zwischen Kunst und Wissenschaft? Gibt es gemeinsame Schnittmengen? Wie würden Sie diese definieren?

Wissenschaft und Kunst haben einen gemeinsamen Triebmotor und dieser Triebmotor ist die Neugierde. Der aus meiner Sicht stärkste Impuls Wissenschafter*in oder Künstler*in zu werden, ist diese Neugierde an der Existenz, am Sein. Eine Frage, die wir immer und immer wieder (vergeblich) beantworten wollen: Warum? Dieses verzehrende und glühende Streben nach Erkenntnis, das die Kunst genauso wiederspiegelt, wie die Wissenschaft: Warum hier? Warum Existenz? Wohin? Wozu das alles? Was ist mein Beitrag in dieser kurzen Zeit, die wir hier verbringen müssen/dürfen? Diese zutiefst individuelle Beantwortung dieser Frage nach dem Warum muß kreativ sein, darf nicht replikativ sein und muß Neues schaffen. Das ist mal meiner Meinung nach die große Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft. Der kreative Prozess setzt da an, wo diese Schnittmengen sind. Zudem haben Kunst und Wissenschaft in meinen Augen auch einen methodisch sehr ähnlichen Zugang: Das ist die Ergebnisoffenheit. Wissenschaft ist, ebenso wie die Kunst per Definitionem ergebnisoffen. Es geht darum, aus diesem kreativen Impuls heraus der Frage nach dem Warum nachzugehen und damit – eigentlich auch zutiefst egoistisch darum – eigenen Flausen nachzugehen und sich zu entäußern. Jene Entäußerung ist meiner Meinung nach die weitere ganz große Schnittmenge zwischen Wissenschaft und Kunst. Natürlich kann dies auch in die Richtung eines emotional fordernden Egoismus ausschlagen, dass Menschen etwa in ihrem Entäußern sozial inkompatibel werden, ihr soziales Netzwerk oder familäre Werte „opfern“ und damit nicht mehr jene klassischen Verankerung im zivilen Leben haben und es zu einer Vernachlässigung der Umwelt kommt, sie zu „Triebtäter*innen im Sein“ werden… Natürlich spreche ich da aber auch nicht von allen Künstler*innen oder Wissenschafter*innen. Das andere, was aus diesem starken Impuls kommt, ist das Schaffen. Dies ist ein spannendes Moment, da es ermöglicht Grenzen zu verschieben, nicht stehen zu bleiben, nicht jeden Tag dasselbe zu machen, sondern weiterzugehen. Insofern sehe ich ganz wenige Unterschiede zwischen diesen beiden Zünften, wenn man sie nicht utilitaristisch fasst. Ein großer Unterschied allerdings, den ich sehr schmerzlich wahrnehme, ist die Ungleichheit bei der Verfügbarkeit von Ressourcen. Wissenschaft, etwa die medizinische Wissenschaft, die ich vertrete, verfügt oft über weit mehr Ressourcen, während in der Kunst hier allzu oft ein Ungleichgewicht und Ressourcenmangel herrscht, der sich nur in Spitzenpositionen irgendwann mal umdreht. Dies ist in höchstem Maße ungerecht und führt verständlicherweise nicht selten zu Frust.

Was sind Ihrer Meinung nach die Unterschiede zwischen Wissenschaft und Kunst?

Kunst ist immer habhafter als Wissenschaft, während Wissenschaft immer auf einem sehr viel höheren Abstraktionslevel angelagert ist. Ein Bild, ein Theaterstück, ein Musiksolo, … passiert im Jetzt. Es ist sichtbar, es ist hörbar, es adressiert weit mehr Sinne als Wissenschaft. Wissenschaft, insbesondere auf einem molekularen Level ist in einem Maße abstrakt, dass die Bilder dazu nur mehr im Kopf gemalt werden können. Es ist viel weniger physiologisch. Es gibt den Begriff des „Embodiments“ und die „Embodied Cognition Theory“, die leiblich verankerte Kognition, besagt, dass Denken nicht unabhängig vom Körper möglich ist und multimodal verkörperlicht ist (Stangl, 2021). Das heißt, je mehr Sinne adressiert werden, hören, sehen, fühlen, schmecken, riechen, … umso immersiver ist ein Eindruck von etwas. Theaterstücke etwa beruhen ja darauf. Und das ist Wissenschaft nicht: Für ein Publikum wäre es vergleichsweise nicht so berührend/inspirierend Wissenschafter*innen bei ihrer Arbeit zu beobachten. Da wissenschaftlicher Output meist abstrakt ist, benötigen Wissenschafter*innen auch andere Wissenschafter*innen oder Expert*innen als Zuhörer*innen und Publikum, um dieses vergleichsweise Glücksgefühl wie bei Künstler*innen auf der Bühne erzeugen zu können.

Dies ist interessant, denn das Toihaus etwa adressiert Kinder, und holt Kinder auf einer Ebene ab, auf der diese mitgehen können. Zieht man an diesem Punkt den Vergleich zur Wissenschaft, werden in den meisten Fällen Wissenschafter*innen nur andere Wissenschafter*innen mit ihrem Output beglücken können. Das wäre, wie wenn man Theater nur für Spezialist*innen macht, vergleichbar, wie wenn das Toihaus seine Produktionen nur mehr für Schauspieler*innen aufführen würde. Das ist vielleicht ein ganz großer Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst. Ein weiterer Unterschied zwischen Wissenschafter*innen und Künstler*innen ist vielleicht auch der Aspekt der professionellen Evidenz und objektiven Vergleichbarkeit: So lässt sich etwa für jede/n biomedizinisch afiliierte/n Wissenschafter*in auf der ganzen Welt mit Blick in die zentrale Datenbank Pubmed Profil und „Marktwert“ eruieren. Es lässt sich genau recherchieren wer was wo publiziert hat, etc. Ein komplett objektivierbares System, wo subjektive Aspekte außer Acht gelassen werden können. Nicht die bessere Werbung oder Promotion verhilft zum Erfolg, sondern die Einzelperson steht bei diesem System im Fokus. Ein System, das dadurch auch gerecht ist, da alle diesselben Chancen haben. Nehmen wir zum Beispiel Uğur Şahin und Özlem Türeci, jenes türkische Ehepaar, das in Deutschland für Biontech Pfizer den Impfstoff gegen Covid entwickelt hat. Ihre Geisteskraft hat sie zu dem gemacht, was sie jetzt sind und alleine das zählt. Das bedeutet – um wieder im Kunstkontext zu denken – man muß nicht bei der besten Galerie sein, der/die Künstler*in ist einfach da, hat einen Ort, wo er/sie arbeiten kann und dann ist es seine/ihre Stärke/Schwäche, die sie/ihn hier international referenziert.

Denken Sie, dass sich so ein System auch auf die Kunst übertragen lässt?

Im Prinzip gibt es so ein System ja schon: Jede/r Künstler*in kann seinen/ihren Verkaufswert bestimmen, bestimmen, wo er/sie steht. Nur kann ein/e Künstler*in, die – etwa in der Bildenden Kunst – ein Bild um 600 Euro verkauft auch sehr viel besser sein, als ein/e Künstler*in, die sein/ihr Bild um 60.000 Euro verkauft. Doch fürchte ich, dass Kunst an sich eigentlich nicht objektivierbar ist, sondern immer nur die Ökonomie der Kunst.. und das ist etwas anderes … Doch gäbe es vielleicht dahingehend Möglichkeiten. Ein Beispiel: Ich bin einmal mit einem versierten und durchaus auch gut verkaufenden Künstler wandern gewesen. Auf einer Almhütte, an der wir vorbeikamen, lag ein Stapel dieser alten Souvenir-Postkarten. Beim Abendessen sortierte der befreundete Künstler dann die Postkarten-Motiven auf zwei Stapel mit „guten“ und „schlechten“ Bildern. Auf meine Nachfrage, erklärte er mir seine Auswahlkriterien für die jeweiligen Stapel und wie sich herausstellte, lagen dieser Auswahl ausschließlich anthropolgische Konstanten zugrunde. Somit dürfte es etwa in der Bildenden Kunst Merkmale geben, die alle Menschen gleichermaßen gut oder schlecht finden. Uns allen dürfte ein evolviertes Ästhetik-Empfinden gemein sein, das gerade etwa bei der Rezeption und Wahrnehmung von Kunst große Relevanz hat. Dieser Aspekt ist universalisierbar und damit beschäftigt sich auch die evolutionär denkende Kunstgeschichte. Zudem ist Ästhetik auch in Hirnströmen oder Hormonen messbar.

Je näher etwa ein Bild oder ein Theaterstück an diesen ästhetischen, anthropologischen Konstanten angelagert ist, desto besser verkauft es sich. Nehmen Sie etwa Picassos „La Guernica“, werden Sie gewisse Naturproportionen auch in diesem grausamen Bild entdecken können. Dies hebt dieses Bild von vielen anderen Bildern ab. Das könnte ein Ansatz sein, um auch Kunst, vor allem Bildende Kunst meßbarer und objektivierbarer zu machen. Wie sich das bei Theater anwenden lassen könnte, kann ich allerdings nicht beurteilen. Bei Projekten am Institut für Ökomedizin der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität können wir etwa Architektur im Blut meßbar machen.

Gedankenexperiment: Dann müssten wir am Toihaus wohl mal gemeinsam mit Ihnen ein Theaterstück machen, um diese Parameter auf das Theater anzuwenden.
Wir entwickeln dann das „perfekte“ Theaterstück, das jeder/jedem gefällt … (Cornelia Böhnisch lacht) 

Das wäre möglich … eine Artificial Intelligence schreibt das entsprechende Drehbuch dazu … Denn dieses wird gewisse Elemente benötigen: es wird die Liebe brauchen, es wird die vergebliche Liebe brauchen, es wird das Sehnen brauchen, es wird den Tod brauchen, … das heißt es wird gewisse Muster haben … und wenn man alle Theaterstücke, die jemals erfolgreich waren in diese AI hineinfüttert, dann würde wohl das „perfekte“ Theaterstück herauskommen. Hinzuzufügen wären dann Erkenntnisse aus der Evolutionsbiologie, wo einordnbar ist, wo steht der Mensch gerade? Was nimmt er/sie wahr? Was findet er/ sie wichtig? Was unwichtig? Was wird ausgeblendet? Was muß ausgeblendet werden? Wichtig wäre auch noch das gewünschte Ziel zu definieren: Wie sollen die Kinder auf das Theaterstück reagieren? Darauf abgestimmt könnte man dann das perfekte Stück konzeptionieren. Zum Abschluss wäre dann natürlich noch zu evaluieren, ob das Gewünschte eingetreten ist…

Würde dieses perfekte Theaterstück die Welt retten?

Nein, aber es würde die Welt wohl formen …

Sehen Sie in der Kunst einen Heilungsauftrag?

Ich finde, jede Art von Kunst kann heilen, doch finde ich, dass Kunst nicht grundsätzlich heilen soll. Wissenschaft kann heilen, gerade medizinische Wissenschaft soll und muß auch heilen, aber es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft per se heilen zu wollen. Auch hier ist wiederum eine große Ähnlichkeit zwischen Kunst und Wissenchaft gegeben. Kunst wie Wissenschaft haben das Potenzial, die Welt zu einem angenehmeren, zu einem besseren Ort zu machen. Das ist eine große und wichtige Schnittmenge. Denkt man jedoch etwa an Klaus Kinski, ist klar, ein Kinski wollte nicht heilen. Im Gegenteil: Er wollte anzünden, er forderte,.. er wollte ganz etwas anderes … Genauso hat Kunst meiner Meinung nach nicht diesen universellen Heilungsgedanken in sich.

Lassen sich ausgehend vom aristotelisch-karthatischen Prinzip Querverbindungen zur Wissenschaft herstellen?

Absolut! Und jene Welt der Heilung, zu der auch das Potenzial der Künste zu zählen ist, ist eine ganz wichtige Welt und manifestiert wichtige Grundgedanken. Dennoch möchte und sollte man/frau auch über die andere Sicht- und Herangehensweise Bescheid wissen…

Welche Aufgabe hat Ihrer Meinung nach Kunst im Moment?

Große Teile von Wissenschaft haben durch die Krise gesteuert, doch nun ist es an der Zeit zu überlegen, wie kommt man aus dem Ganzen raus und da werden Kunst und Kultur eine große Rolle spielen. Mein Institut arbeitet aktuell an einer Studie zur Rehabilitation von Long Covid Patient*innen und zur Möglichkeit im virtuellen Raum Gesundheit zu antizipieren und dort mit einem virtuellen Atemphysiotherapeuten und einer künstlichen Umwelt an Gesundheit zu gewinnen. Sie sehen, die Auswirkungen von Covid-19 sind auch für mich als Wissenschafter ein wichtiges Thema und es beschäftigt mich sehr, zur Auflösung der Krise beitragen zu können.

Was denken Sie kann die Kunst für die Zukunft tun?

Da könnte wesentlich sein, was im und durch das Theater mitgegeben wurde. Welche Themen wurden besetzt? Nimmt man etwa als Beispiel die Ökologie bwz. ökologisches Denken, so lässt sich dieses bei Kindern hervorbringen, indem man bestimmte Themen bespielt und adressiert. Theater könnte hier etwa als Bühne Vermittlung sicher eine wichtige Rolle einnehmen. Denn eins ist gewiss: Ökologisch-geprimte Menschen werden uns helfen, das 21. Jahrhundert weniger grausam zu gestalten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führten: Cornelia Böhnisch und Karoline Jirikowski
Organisation, Transkript & redaktionelle Bearbeitung: Karoline Jirikowski
Korrektorat: Johanna Breuer

April 2021

 

 

 

Arnulf Hartl ist Immunologe und leitet das Universitätsinstitut für Ökomedizin der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. Er forscht mit seinem Team an der medizinischen und psychologischen Wirkung der Natur auf die Gesundheit des Menschen sowie der daraus abgeleiteten touristischen Regionalentwicklung rund um das Thema Gesundheit. Die Kernkompetenz des Instituts ist die unabhängige Durchführung von klinischen Studien und Grundlagenforschung zur Wirksamkeit von natürlichen Gesundheitsressourcen und Virtual Reality Umwelten zur Therapie und Prävention von chronischen Erkrankungen und Zivilisationserkrankungen. Er ist wissenschaftlicher Leiter der gesundheitstouristischen Initiative „Hohe Tauern Health – Urlaub für Allergiker und Asthmatiker“, Mitglied der Steuerungsgruppe der „Alpinen Gesundheitsregion SalzburgerLand“, der Arbeitsgruppe „sustainable tourism“ der Alpenkonvention sowie der makroregionalen Strategie EUSALP im Bereich Gesundheitstourismus. Derzeit leitet er zwei Cross-Border EU-Projekte zu den Themenkomplexen „Immunologische und orthopädische Wirkung des Heilbadens und Wanderns auf Best Agers 65+“ sowie zu evidenzbasierten Zugängen zur Erschließung natürlicher Gesundheitsressourcen im Winter für die Zielgruppe der feinstaubgeplagten StadtbewohnerInnen sowie ein transnationales EU Alpine Space Projekt „Healing Alps 2“ zur Gesundheitswirkung der Alpen und darauf aufbauenden regionalen Wertschöpfungsketten. Er veranstaltet den jährlichen Kongress „Heilkraft der Alpen“ in Bad Hofgastein und ist Autor einer Reihe von Publikationen und Büchern zum Thema „evidenzbasierter Gesundheitstourismus“ und „Heilkraft der Alpen“

Die Paracelsus Medizinische Privatuniversität (PMU) ist eine österreichische medizinische Privatuniversität in Salzburg mit einer Niederlassung in Nürnberg. Sie betreibt Lehre und Forschung im Bereich Humanmedizin und in weiteren Fächern der Gesundheitswissenschaften, insbesondere der Pflegewissenschaft und der Pharmazie. Benannt ist sie nach dem in Salzburg verstorbenen Arzt Paracelsus, der dort einige Jahre tätig war. Die klinische Ausbildung der angehenden Mediziner erfolgt in Salzburg an den Universitätskliniken Salzburg und in weiteren Lehrkrankenhäusern sowie in Nürnberg am Klinikum Nürnberg.